Title
China. Schauplätze west-östlicher Begegnungen


Author(s)
Messmer, Matthias
Published
Extent
659 S.
Price
€ 39,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Hajo Frölich, Freie Universität Berlin

„China ist groß“ lautet ein beliebter Gemeinplatz ebendort. „China“, also das vorliegende Buch von Matthias Messmer, ist auch groß. Ein breiter Titel, auch der Untertitel präzisiert das Thema nur wenig, und beides ist dem 659 Seiten dicken Buch des promovierten Sozialwissenschaftlers auch angemessen. Denn Messmer beackert gleich mehrere Forschungsfelder: Der Fokus liegt auf den China-Bildern westlicher Reisender des 20.Jahrhunderts, doch zugleich geht es um Raum und Ort, um Reisen, um Juden in China und um die kommunistische Revolution.

Es ist wohl kein Zufall, dass sich die Forschung zu Selbst- und Fremdbildern so oft des chinesischen Beispiels angenommen hat. Auch Messmer weiß, Francois Jullien anführend, wie nahe die „Klippen von Ethnozentrismus und Exotik“ gerade hier beieinander zu stehen scheinen (S. 15), was bei Reisenden zu einer Fülle extrem unterschiedlicher Bilder führt. Es ist diese Fülle der Wahrnehmungen, die gerade im 20.Jahrhundert durch die enorm steigende Zahl ausländischer Reisender so vielfach niedergeschrieben werden, die eine deutliche Einordnung schwierig macht. Entsprechend liegt der Schwerpunkt der Forschung zu China-Bildern auch meist vor dem 20. Jahrhundert.1 Ein Trend wie jener von der europäischen Hochachtung zur Verachtung Chinas etwa, der sich für das 18. und 19.Jahrhundert in der Rückschau so deutlich abzuzeichnen scheint, ist für das gerade vergangene Jahrhundert weniger deutlich auszumachen. Matthias Messmers 32 Seiten starkes Quellen- und Literaturverzeichnis lässt erahnen, warum das so ist. Und so unternimmt er denn auch gar nicht erst den Versuch, eine Bresche zu schlagen, in seinem Material einen eindeutigen Trend zu skizzieren. Die Vielfalt kommt zu ihrem Recht, und das nicht zuletzt, weil der Autor seinen Protagonisten offene Sympathie entgegenbringt.

Mit dem vorliegenden Buch wendet sich Messmer, der regelmäßig für die Neue Zürcher Zeitung aus China berichtet, ausdrücklich an verschiedene Leserkreise, an Geschäftsleute (denen ein solch dickes Buch als „Handbuch“ anzuempfehlen freilich optimistisch klingt) wie an Wissenschaftler und ganz allgemein an „interessierte, differenziert denkende Zeitgenossen“. Sie alle werden das Buch tatsächlich mit Gewinn lesen können – doch sie brauchen einen langen Atem.

Gegliedert ist die Arbeit in drei große Teile, in Orte, Menschen und Wahrnehmungsfelder. Letzteren ist explizit der dritte Abschnitt gewidmet, doch durchzieht dieser Aspekt das ganze Buch. In besagtem dritten Abschnitt kategorisiert Messmer die Themen der Wahrnehmungen, etwa in „Beobachtungen der äußeren Welt“, „Sitten und Gebräuche“ oder „Staat, Macht und Gesellschaft“. Eine Unmenge an Quellen hat er zusammengetragen: Zu weiten Teilen sind sie nicht bloßer (und für sich schon beachtlicher) Archivarbeit, sondern vielen im Laufe von fünf Jahren geführten Gesprächen und Interviews mit Zeitzeugen in aller Welt zu verdanken. Es ist diese Menge an Stoff, die dem Buch zuweilen fast zu schaden droht. Über lange Strecken gibt Messmer Bücher, Briefe und Gesprächspartner wieder und fügt seiner Darstellung teils halbseitige Zitate ein. Sicherlich richtig bemerkt er selbst, dass es auf diese Weise möglich werde, die „Vielfältigkeiten, Schattierungen und Nuancen des Untersuchungsgegenstandes besser wahrzunehmen“ (S. 513). Dennoch droht im Sturm der Paraphrasen und Zitate die Analyse, die Messmer durchaus auch leistet, manchmal unterzugehen.

Es scheint ein Grundproblem der Forschung zu Bildern zu sein, dass, wer sich mit ihrer Unzahl über lange Zeit näher befasst hat, Gefahr läuft, die faszinierende Menge vor allem zu addieren. Messmer betont denn auch die Subjektivität seiner letztlichen Auswahl und welch große Rolle das Kriterium der Ästhetik dabei gespielt habe (S. 21). Damit nähert sich die Darstellung passagenweise jedoch gefährlich dem, was Jürgen Osterhammel „bloß illustrierende, ihr bildkräftiges Material stoffhuberisch auf den bunten Effekt hin arrangierende“ Geschichtsschreibung genannt hat.2

Dennoch: Am „chinesischen Gesamtteppich“, den Messmer knüpfen will, „sollen sich Kenner der Zeitgeschichte wie Laien erfreuen, aber auch Politologen und Sinologen und gewiss, wer sich für die jüdische Präsenz im Reich der Mitte interessiert“ (S. 17). An dieses Ziel des Erfreuens, das in der Forschungsliteratur selten postuliert und vielleicht noch seltener erreicht wird, gelangt Messmer – vom stellenweisen Überfluss der Paraphrasen und Zitate abgesehen – spielend schon durch seinen flüssigen Stil, dem man die journalistische Arbeit wohltuend anmerkt. Die Geschichten und Lebensbilder, die er entrollt, sind jede für sich faszinierende Lektüre. Darüber hinaus ist das Buch mit seinen zahlreichen, teils farbigen Abdrucken von zeitgenössischen Landkarten, Zeitungsartikeln, Karikaturen, Werbeanzeigen, Buchtiteln und Fotografien selbst reich an Bildern im Wortsinne, die eine nicht zu unterschätzende Frucht der umfangreichen Recherchen darstellen.

Sehr gelungen sind die beiden anderen Großkapitel, die sich den Orten oder Schauplätzen und den Menschen widmen. Insbesondere in letzterem Abschnitt zu „Individuen, Biographien und Lebenswelten“ führt Messmers Feststellung, eine jede „Gesamtgeschichte“ entstehe aus Einzelwahrnehmungen (S.19) zu einer überzeugenden Verquickung der beiden. Von Michail Borodin bis zu Eva Siao versammelt er hier ein Lexikon der bekannten und weniger bekannten Ausländer im China des 20.Jahrhunderts. Dass Messmer sich dabei auf Juden beschränkt, leuchtet trotz einer dreifachen Begründung (S.18) nicht völlig ein, was der Darstellung aber keinen Abbruch tut. Deren Stärke liegt eben in der Verbindung von Einzel- und Gesamtgeschichte. In diesen biographischen Skizzen lässt Messmer alle Aspekte: den Menschen, seine Wahrnehmung, und deren Ort gekonnt zusammenlaufen; die Lektüre bildet einen Höhepunkt des Buches.

Doch ist den Orten der Wahrnehmung ja auch ein eigenes Kapitel gewidmet, und auch dieses überzeugt. Messmer hebt die chinesischen Großstädte heraus, die vor allem jene „Schauplätze west-östlicher Begegnungen“ des Untertitels waren: Peking, Shanghai, Tianjin, Qingdao, Harbin, Kanton, Hankou und Chongqing, dazu Yan’an. Historische Städteporträts sind dabei entstanden, geschildert durch die Augen ihrer jüdischen Bewohner und Besucher, und jedes könnte für sich selbst stehen. So hat Messmers Buch tatsächlich das Potential, nicht nur der anvisierten, breiten Leserschaft China näher zu bringen; zugleich setzt es auch manchem bis dato vergessenen Protagonisten ein Denkmal.

Dass es auf eine starke These verzichtet, der Vielfalt Raum lässt, ist Stärke wie Schwäche des Buches zugleich. Da erscheint es etwas inkonsequent und – angesichts der Quellenauswahl – tautologisch, wenn Messmer am Ende von Chinas „jüdischem Jahrhundert“ (nach dem katholischen und dem protestantischen) spricht (S. 518f.). Für die Forschung zu Juden in China freilich dürfte das Buch ebenso eine Fundgrube darstellen, wie für die erwähnten anderen Forschungsfelder. Der Quellenfundus ist imposant und birgt Ansatzpunkte für weitere Untersuchungen sowie biographische Informationen zu einer Vielzahl von Darstellern auf dem chinesischen „Schauplatz“ des 20. Jahrhunderts. Freudig erleichtert stellt der Leser am Ende fest, dass der Verlag an einem Personenregister nicht gespart hat. Dies wäre eindeutig das falsche Ende gewesen.

1 Siehe etwa Hsia, Adrian, Chinesia. The European Construction of China in the Literature of the 17th and 18th Centuries, Tübingen 1998; Osterhammel, Jürgen, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998; Münkler, Marina, Erfahrung des Fremden. Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugenberichten des 13. und 14. Jahrhunderts, Berlin 2000; Reichert, Folker E., Begegnungen mit China. Die Entdeckung Ostasiens im Mittelalter, Sigmaringen 1992.
2 Osterhammel, Jürgen, Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas, in: Saeculum 46 (1995), S.101-138, hier: S.105.

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06.11.2007
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